Deutschland am Abgrund

Juli 2024 in Pirna (in der Stadt, deren Bürger sich einen mit der Unterstützung der AfD angetretenen Oberbürgermeister gewählt haben).

Strafverhandlung der Einzelrichterin. Jemand hatte fünf Personen in einem Prager Hotel abgeholt und über die Grenze gebracht. Die Personen hatten kein Visum. Schleusung also.

Zwei Dinge muß man dazu bemerken. Erstens hatte die Staatsanwaltschaft – ziemlich ins Blaue hinein – eine Schleusung gegen Entgelt angeklagt, von der sich recht bald herausstellte, daß sie sich nicht würde beweisen lassen. Zweitens will der Gesetzgeber das Verbringen über die Grenze von mehr als einer Person genauso bestraft sehen, wie Schleusung gegen Entgelt. Wer also Verwandte (Mehrzahl) über die Grenze bringt, wird im Grundsatz genauso bestraft, wie der gewerbsmäßige Schleuser mit einer Lastwagenladung voll Flüchtlinge. Aber der Gesetzgeber kennt auch den minderschweren Fall.

Den kennt das Gericht in Pirna jedoch nicht. Und zwar mit der Begründung, wir befänden uns hier in einer Grenzregion und die Bevölkerung leide sehr unter dem Schleuserunwesen. Es habe sich das Empfinden verbreitet, man könne in Deutschland nach Belieben ein- und ausreisen. Das sei der Bevölkerung nicht zuzumuten. Eine strenge Bestrafung mit einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe sei grundsätzlich zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten. Staatsanwalt und Gericht im Wechselgesang.

Die Worte Grenzregion, Bevölkerung und Empfinden fielen so oft und so schnell hintereinander, daß sie sich in meinem Kopf – ich kann mir nicht helfen – zu dem Gefühl amalgamierten, es sei das gesunde Volksempfinden, das die exemplarisch strenge Bestrafung jedes Falles dieser Art verlange.

Merkwürdigerweise wurde auch das in diesem Fall bemühte Erfordernis der Verteidigung der Rechtsordnung gar nicht mit juristischen Argumenten begründet, sondern mit dem Empfinden der Grenzbevölkerung. Die Gegenvorstellung, daß die Verteidigung der Rechtsordnung vielleicht gerade nicht regional unterschiedlich gehandhabt werden sollte, wenn es denn dieselbe Rechtsordnung ist, die Pirna mit dem Rest der Bundesrepublik verbindet, stieß auf kein Verständnis.

Den Gedanken, daß bestimmt keiner, der dieser Grenzbevölkerung begegnet, sie länger als unbedingt nötig belästigen und schleunigst etwas grenzfernere Regionen aufsuchen wird, habe ich dann für mich behalten.

Auch in dieser Verhandlung hat das Gericht den minderschweren Fall nicht kennengelernt, aber die Strafe entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft dann doch zur Bewährung ausgesetzt. Aber die Staatsanwaltschaft kann ja ins Rechtsmittel gehen.

Fazit: sowohl die grenznahe Bevölkerung einschließlich des zugehörigen Justizpersonals als auch ich haben – wenn auch aus entgegengesetzter Perspektive – den Eindruck, daß Deutschland am Abgrund steht.

Unbefangen in Schönebeck

Was man beim Amtsgericht Schönebeck alles darf und nicht darf und woran man erkennt, daß ein Schönebecker Richter doch nicht befangen ist.

Ein Schönebecker Richter darf einem Zeugen etwas vorhalten, was der gar nicht gesagt hat, und zwar mit dem Worten: „Sie haben mir gerade gesagt, daß …“

Das darf er erstens deshalb, weil man erkennt, daß der Vorhalt eine Schlußfolgerung darstellt.
Ernsthaft: Es „kann dahinstehen, ob der abgelehnte Richter den gerügten Vorhalt als Schlussfolgerung ausdrücklich kenntlich gemacht hat. Denn das war ganz offensichtlich und für die Zeugin auch erkennbar.“ (RiAG Mundt in seinem Beschluß vom 08.03.2024). Woran man das erkennen soll, muß offensichtlich deshalb nicht erklärt werden, weil es so offensichtlich ist.

Das darf er zweitens deshalb, weil dies der Zeugin „Gelegenheit geben sollte, den vom Gericht gewonnenen Eindruck zu korrigieren oder zu bestätigen.“ Es ist ja aussagepsychologisch ein bekanntes Phänomen, daß es Zeugen besonders leicht fällt, den Eindruck, den ein Richter von ihren Aussagen gewonnen hat, zu korrigieren und dem Richter direkt zu widersprechen. In diesem Sinne kann es der Wahrheitsfindung nur ganz besonders dienen, dem Zeugen falsche Vorhalte zu machen, weil der ja dadurch reichlich Gelegenheit erhält, das noch einmal zu korrigieren (oder zu bestätigen).
Diese Passage mag einen Eindruck von dem ganz besonders griffigen Umgang mit der Strafprozeßordnung im Amtsgericht Schönebeck vermitteln. Das bestätigt sich dann auch prompt, wenn es heißt:

Das dürfe der Richter drittens deshalb, weil das „ein Vorgang ist, der in Gerichtssälen ständig vorkommen dürfte“. In Gerichtssälen in Schönebeck vielleicht. Aber sonst?

Kommen wir zu dem, was man nicht darf.

Der Verteidiger, der in seinem schlichten Gemüt diese Art der Wahrheitsfindung verkannte und meinte, der Vorhalt sei nicht nur falsch, weil die Zeugin das vorgehaltene nie gesagt hatte – was in der dienstlichen Stellungnahme des abgelehnten Richters auch gar nicht in Abrede gestellt wurde (Stichwort „Schlußfolgerung“) -, sondern auch hoch suggestiv und deshalb dem Richter ins Wort fiel, der missachtete die dem Richter anvertraute Verhandlungsleitung.

Es handelt sich bei seiner Beanstandung um eine „regelwidrig vorgenommene Intervention“. Statt die Vernehmung durch den Vorsitzenden abzuwarten, intervenierte der Verteidiger „ohne um das „Wort“ zu bitten, riss so die Verhandlungsleitung faktisch an sich und „störte“ offenbar die Vernehmung“. Über gerichtliche Vernehmungen durch Amtsrichter hat Heinrich von Kleist zwischen 1802 und 1811 mal ein ganzes Theaterstück geschrieben – wie hieß es nur gleich? Aber er hat es vorsichtshalber in das Jahr 1695 verlegt, die Zeiten sind längst vorbei und in Schönebeck wird Zeugen stets und insbesondere am 26.02.2024 Gelegenheit gegeben, richterlich gewonnene Eindrücke zu korrigieren und Verteidiger, die die Verhandlungsleitung faktisch an sich reißen, gehören zurechtgewiesen und deshalb kommt der eigentliche Ablehnungsgrund, nämlich daß der abgelehnte Richter die Frage, ob sein Vorhalt zulässig sei oder nicht, die Gegenstand der regelwidrig vorgenommenen Intervention war, nicht erörtert, sondern sogleich mit einen – in seiner dienstlichen Stellungnahme nicht bestrittenen – „Jetzt reicht’s mir aber“ beantwortet hat, in dem Unbefangenheitsbeschluß auch gar nicht vor.

Auch dies könnte ein Vorgang sein, der in manchen Gerichtssälen ständig vorkommen dürfte.

Der Anwalt im tiefen Digital

Verbessert das anekdotenhafte Erzählen von den Schwachsinnigkeiten der Digitalisierungsversuche der Justiz (oder irgendeiner anderen Bürokraten-Vereinigung) irgendetwas? Hilft es den Effizienzathleten auf ihren ergonomischen Bürodrehstühlen, irgendeine der vielen Unzulänglichkeiten ihrer „Apps“ und „Softwaremodule“ genannten Hilfskrücken abzustellen? Hält es sie davon ab, das scheinbar in Vergessenheit geratene (oder erinnert sich noch jemand?) Murphys Law, wonach 1. alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird und man 2. eine Sache so lange verbessern kann, bis sie endgültig zusammenbricht immer und immer wieder empirisch zu bestätigen? Oder – optimistisch ausgedrückt – geht’s auch mal vorwärts? Oder immer nur seitwärts zurück? Oder – pessimistisch ausgedrückt – hilft die Erkenntnis, daß Justiz und Datenverarbeitung zwei höchst gefährliche Stoffe sind, die – einmal zusammengeschüttet – ein extrem ätzendes Gebräu ergeben, von dem alle, die mit ihren weißen Kochmützen davorstehen, behaupten, das sei nun – vorbehaltlich des nächsten Updates – das non plus ultra, wenigstens zur Einsicht, daß diese Köche den Brei todsicher verderben werden? Was noch lange nicht zu der Erkenntnis verhilft, warum das so sein muß.

Einmal schon hat es den Betreiber des besonderen elektronischen Anwaltspostfach hinweggefegt und das zu Recht. Man liest den Namen ATOS praktisch nur noch in denjenigen Wirtschaftsnachrichten, in denen von bevorstehenden Pleiten gemunkelt wird. Der Name des trunksüchtigen, spielwütigen Musketierskumpan des Romanhelden d’Artagnan war zum Glück Athos. Daran kann man die heutige Firma von dem edlen Raufbold unterscheiden.

Die sind also weg. Konnte es schlimmer kommen? Nein, das war praktisch ausgeschlossen. Aber frecher konnte es werden. Und das wurde es. Hatte der vorige Betreiber noch offen seine Ahnungslosigkeit bekannt, wenn der Nutzer (eigentlich ein unzutreffender Begriff, denn die Nutzung funktionierte ja gerade nicht) einen Fehler gemeldet hatte, und zwar stets, so daß man die Fehlermeldungen irgendwann sein ließ, weil einen die Tröpfe dauerten, so geht das jetzt ganz anders.

Mag ein Fehler auch noch so oft auftreten und noch so offensichtlich auf einen bug in der Software zurückzuführen sein, lautet die Antwort auf eine Fehlermeldung jetzt stets:

  1. Der Fehler lasse sich nicht reproduzieren. Wozu schickt man eigentlich das Protokoll mit? Wozu wird das überhaupt aufgezeichnet? Was ist das für eine Fehlersuche, die es dem Anwender überlassen will, einen Fehler so lange zu wiederholen, bis ein Muster erkennbar wird?
  2. Der Fehler, Herr Anwender oder Frau Anwenderin, tritt nur bei Ihnen auf und ist ansonsten völlig unbekannt. Ich habe ja den Verdacht, daß das unverschämt gelogen ist. Aber soll man deshalb eine Anwenderschutzvereinigung gründen, um dem Betreiber nachzuweisen, daß seine Software fehlerhaft ist und nicht der einzelne Anwender?


Na, jedenfalls läßt sich mit dieser dreisten Kombination aus Ist uns doch egal und Sieh mal zu jede Fehlersuche kurzfristig zum Ende bringen.

Zwei Dinge sind erwähnenswert.

Das eine ist: der Fehler ist keineswegs unkritisch. Es gibt nämlich Zeiten, vor allem am Wochenende, da lassen sich Dateien partout nicht signieren. Die Fehlermeldung lautet beim Hochladen „Es liegen technische Probleme vor, bitte versuchen Sie erneut zu signieren“ und daran sieht man schon die ganze Idiotie dieses Fehlers und seiner Behandlung in der Software: man kann gar nicht „erneut signieren“, sondern hat nur die Wahl, den Vorgang abzubrechen oder unsigniert hochzuladen. Und zwar tritt dieser Fehler auf, seit das client security module verbessert und viel viel sicherer gemacht worden ist.

Das andere sind die Namen dieser Spitzenkönner, die in der ganzen Software – wahrscheinlich aus gutem Grund – nicht zu finden sind.
Wesroc GbR
ein Konsortium aus der Westernacher Solutions GmbH und der rockenstein AG.
Sie merken schon: wenn’s darauf ankommt, wird es keiner gewesen sein. Zur Vollständigkeit:

Die Westernacher Solutions GmbH ist ein seit den 90er Jahren mit der Justiz fest verbandeltes Unternehmen. Wie gut das funktioniert, kann jeder sehen, der sich mit den Digitalisierungstänzchen der Justiz von Berufs wegen beschäftigen muß. Dieser Anblick vermittelt einem nämlich, wie es sich anfühlen muß, mit einbetonierten Gummistiefeln zu tanzen, und zwar zu dem von Westernacher Solutions GmbH ausgerufenen Slogan „Go digital! For sure!“
Die Rockenstein AG ist ein 1992 von Christoph Rockenstein zum Beginn seines Informatikstudiums gegründeter Service Provider in Würzburg.

Und damit wieder zurück zu den eingangs gestellten Fragen? Nein, vielmehr:

Ein Wunder ist geschehen!

(Logbuch der Pequod vom 01.03.2024:) Einen Monat und ein Update nach den obigen Bemerkungen ist das Phänomen – ich hatte es versehentlich als Fehler bezeichnet – VERSCHWUNDEN. Als hätte es nie existiert. Hat es ja – nach den Angaben der Betreiber – im Grunde auch nicht. Trotzdem habe ich im Moment das ganz und gar unwirkliche Gefühl, als habe sich da etwas verbessert.

Und damit zurück zu den eingangs gestellten Fragen.

Wunsch und Wirklichkeit

Gerne würde man glauben, dass die wohlmeinenden Politiker in Bund und . teilweise – im Land wirklich dem Arbeitsmarkt aufhelfen, indem sie Ausländern den Zugang zu Ausbildung und Arbeit ermöglichen.
Denselben Ausländern übrigens, denen den Zugang zum Arbeitsmarkt mit allen Mitteln zu versperren es ein gemeinsames Anliegen aller Beteiligter, von den Bundespolitikern über die Landespolitiker zu den auf kommunaler Ebene emsig Ablehnungsbescheide schreibenden Ausländerbehörden bis hin zur Agentur für Arbeit, die bei der Bedürfnisprüfung einfach nicht erkennen konnten, daß gerade dieser ausländische Antragsteller auf dem Arbeitsmarkt gebraucht oder für die Ausbildung geeignet sein könnte.
Und das soll sich jetzt ganz geändert – ja ins Gegenteil verkehrt haben? (Die Kehrtwende ist nach all den Jahren schon etwas lächerlich)
Nein, Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn da nicht fundamentale Beharrungskräfte das Schiff auf Kurs halten würden. Denn Deutschland ist da, wo tatsächlich entschieden wird, kein Einwanderungsland und will es auch nicht sein. Und es wäre doch gelacht, wenn ein Federstrich der Bundespolitik daran etwas ändern könnte.
Denn die Arbeitgeber lesen wohl nicht Zeitung und die Ausländerbehörden wollen nicht jeder Modetorheit folgen. Deutschland ein Einwanderungsland? Das kann warten.
Praktisches Beispiel: ein Asylbewerber aus Tadschikistian, ein Ausbildungsbetrieb aus Brenz und die Ausländerbehörde Vorpommern-Rügen in Stralsund.
Der Asylbewerber möchte Elektriker werden. Der Betrieb aus Brenz sucht Auszubildende. Aber die Ausländerbehörde: die verkündet am 17.07.2023 entgegen der tatsächlichen Rechtslage, es sei unter allen Umständen ausgeschlossen, daß der Asylbewerber – dessen Verfahren im konkreten Fall seit Oktober 2021 läuft, eine Ausbildung in Deutschland beginnen könne. Tatsächlich glaubt ein Großteil aller kleinen und mittelständischen Arbeitgeber noch immer, daß ohne eine vorhandene Arbeitserlaubnis weder ein Arbeitsvertrag noch ein Ausbildungsvertrag geschlossen werden kann. Geht also nicht.
Folglich wird der Asylbewerber, der eine Ausbildung machen möchte und über die notwendigen Sprachkenntnisse verfügt, dank dem Betrieb, der händeringend nach Auszubildenden sucht, sich aber nicht auf die Rechtslage, sondern auf eine email der Ausländerbehörde verläßt (die aus einem Satz ohne Begründung besteht), und dank der Ausländerbehörde, die ungestraft falsche Auskünfte gibt, erst einmal keine Ausbildung machen. Er wird weiter das Sozialsystem belasten. Das ist kein Zufall und deshalb wohl auch kein Einzelfall. Deutschland wird auf seine Auszubildenden noch etwas warten müssen.

Obrigkeitsstaat war gestern

Und das ist – bei Licht betrachtet – wirklich noch nicht sehr lange her. Nicht umsonst sagt man, wenn man meint, es wäre noch ganz gegenwärtig „Kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen“.

Und tatsächlich: gar nicht so selten erscheint unter der Oberfläche des demokratischen Rechtsstaats der dem Deutschen so vertraute – man möchte beinahe sagen: liebe – Obrigkeitsstaat.

Was zeichnet den aus? Zunächst einmal die Sicht von ganz weit oben auf den Untertan, den Wurm, den nicht zu zerquetschen eine selbstverständliche Rechtswohltat ist. Zivilisiert ist er schon, der Obrigkeitsstaat, die alte Uniform hat er abgeworfen. Aber es kann natürlich passieren, daß mangels Interesse der eine oder andere Winkel unausgeleuchtet bleibt und dann kann es passieren, daß der Wurm unter den Räder kommt. Und wie das bei der Bürokratie so ist (sieh an, da haben wir ihn wieder, den so harmonischen Dreiklang! Obrigkeitsstaat – Bürokratie – Untertan – wie klingt das bekannt, so wehmütig und heimatnah, es ist schon fast eine eigene Melodie), sind es immer mehrere, die sich die Zuständigkeiten teilen, so daß am Ende keiner schuld ist.

Absicht ist das nicht, aber schlecht für den Wurm.

Ein Beispiel. Der Wurm wird am 30.03.2020 in seiner räumlichen Bewegungsfreiheit auf den Landkreis Anhalt-Bitterfeld beschränkt. Dieses Gebiet von 59 X 48 km soll er fortan nicht mehr verlassen dürfen, weil er keinen Pass beibringt. Den Pass kann er nicht beibringen, weil die Botschaft in Berlin ihm keinen ausstellt. Die Logik ist klar: wenn man ihn jetzt in Anhalt-Bitterfeld einsperrt, dann löst sich das Paßproblem bestimmt viel schneller. Er legt aber Widerspruch ein. Der wird am 15.12.2020 zurückgewiesen. Auch Herr Heil vom Landesverwaltungsamt ist der festen Überzeugung, daß sich mit der räumlichen Beschränkung das Paßproblem sicher lösen lassen wird. Der Wurm klagt beim Verwaltungsgericht Halle. Am 18.01.2021 bestimmt das Verwaltungsgericht, daß das Verfahren das Aktenzeichen 1 A 15/21 tragen wird. Für das 15. Verfahren dieser Kammer im Jahr 2021 wird gleich am nächsten Tag der Gegenstandswert festgelegt. Aus dem ergibt sich, daß der Wurm Gerichtskosten von 483,00 € wird zahlen müssen. Am 04.05.2021 beantragt der Wurm Prozeßkostenhilfe. Er hat kein Geld.

Nun passiert erst einmal zwei Jahre lang nichts. Vor allem wird über seinen Prozeßkostenhilfeantrag nicht entschieden. In der Sache selbst passiert sowieso nichts. Aber am 27.01.2023 teilt das Gericht mit, die Stellung des Prozeßkostenhilfeantrags befreie nicht von der Zahlung der Gerichtskosten. Das ist feiner Humor. Und wird garniert mit dem Verweis auf einen Beschluß des Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2019. Hier beginnt sich bereits die Verantwortlichkeit auf mehrere Schultern zu verteilen. Das setzt sich fort, indem nun die Landeshauptkasse übernimmt und am 07.03.2023 – der Wurm konnte wohl nicht zahlen – eine Mahnung versendet und die Vollstreckung ankündigt. Als nächstes wird die Vollstreckungsstelle übernehmen.

Veranwortlich ist so richtig keiner. Das OVG mußte sich 2019 nicht dafür interessieren, daß späterhin über einen Prozeßkostenhilfeantrag zwei Jahre lang nicht entschieden werden würde. Das Verwaltungsgericht mußte sich 2021 nicht dafür interessieren, daß irgendwann mal die Gerichtskosten angemahnt werden würde. Und die Landeshauptkasse mußte sich 2023 nicht dafür interessieren, warum der Wurm ihr 483 € schuldet.

Schlecht für den Wurm.

Amtsgericht Stendal: Bürgersteig betreten verboten!

Mal was Skurriles aus der Altmark.

In Berkau sind zwei Streitlustige auf die Idee gekommen, einer Nachbarin verbieten zu lassen, den Bürgersteig vor ihrem (gemieteten) Haus zu betreten. Wenn sie die Straße entlang zur übernächsten Nachbarin will, soll sie die Dorfstraße benutzen, aber nicht den Bürgersteig.

Einen passenden Anwalt gefunden und los geht’s. Unterlassungsaufforderung, Klage und Antrag auf einstweilige Verfügung.

Dem Eilantrag fehlt es an allem.
Der Besitzanspruch wird nicht glaubhaft gemacht. Haben die Antragsteller wirklich den Bürgersteig mitgemietet?
Wann soll die Antragsgegnerin das Grundstück wo betreten haben? Keine Angaben zu Ort, Gelegenheit, Datum, Uhrzeit oder wer das beobachtet haben will.
Woraus ergibt sich die Eilbedürftigkeit? Nach Meinung der Antragsteller daraus, daß das Betreten des Bürgersteigs „grob rechtswidrig“ ist und die Antragsgegnerin „völlig uneinsichtig“.

Aber das ist nur das ganz normale anwaltliche Niveau und nichts zum Lachen.

Aber jetzt kommt die Pointe:

In – 3 C 416/22 – findet das Amtsgericht das Ansinnen eilbedürftig und begründet und verbietet der Antragsgegnerin das Grundstück mit der von den Antragstellern angegebenen postalischen Adresse in Berkau zu betreten, sonst gibt es ein Ordnungsgeld bis zu 250.000 € oder Haft bis zu 6 Monate. Das ist wirklich cool.

Natürlich hat die Sache einen Haken. Es ist nirgendwo in der Entscheidung festgestellt, von wo bis wo sich dieses Grundstück eigentlich erstreckt. Postadressen sind Postadressen und keine Grundstücksbezeichnungen. Wie man aus dieser Entscheidung jemals vollstrecken sollte, wenn sich die Antragsgegnerin nicht ins Haus der Antragsteller begibt – was man glaube ich ausschließen kann -, weiß ich wirklich nicht. Ach, und die Eilbedürftigkeit? Ergibt sich nach Meinung des Amtsgerichts daraus, daß „die Sachlage nach dem Vorbringen der antragstellenden Partei keinen Aufschub [duldet]“. Also ist auch nach Meinung des Amtsrichters das Betreten des Bürgersteigs „grob rechtswidrig“ und die Antragsgegnerin „völlig uneinsichtig“. Und das genügt.

Fremder, kommst Du nach Berkau: hüte Dich vor dem Betreten der Bürgersteige. Das könnte „grob rechtswidrig“ sein.

Oder ist das nur die Hitze?

Wir werden sehen. Demnächst wird öffentlich verhandelt. Alle Freunde der Realsatire sind herzlich eingeladen.

Rückwärts immer, vorwärts nimmer!

Wenn man über Digitalisierung, Verwaltungsvereinfachung, Abbau von Verfahrenshindernissen und alten Zöpfen spricht, sind die Ausländerbehörden der Landkreise und Städte der Bundesrepublik Deutschland ein unerschöpfliches Thema.

Einen bemerkenswerten und erinnerungswürdigen Beitrag, bei dem einem so recht klar wird, ein wie weiter Weg die Verwaltungsvereinfachung zurückzulegen hätte, wenn es auf diesem Weg vorwärts ginge, während so manche Verwaltungsmitarbeiter frohen Mutes und mit entschlossenem Griff um den Wanderstab in die entgegengesetzte Richtung marschieren, liefert aktuell die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Magdeburg in Gestalt einer Frau Schneider, die sich nicht zu schade ist, zu schreiben, was sie soll, nämlich, daß Akteneinsicht dem Rechtsanwalt mitnichten elektronisch gewährt werden kann. Und erst recht nicht einfach so auf entsprechenden Antrag und Vorlage einer Vollmacht.

Frau Schneider antwortet auf das Akteneinsichtsgesuch vom 15.06.2022 mit Schreiben vom 11.07.2022: man möge erst einmal einen – offensichtlich selbst entworfenen – Fragebogen zurücksenden. Darin soll ich Zahlungsbereitschaft versprechen, Terminvorschläge machen und eventuell angeben, an welche andere Behörde die Akte versendet werden soll.

Dann werde die Ausländerbehörde einen Kostenbescheid versenden, aus dem sich 5 € für (maximal) vier Bände oder 7,50 € für fünf bis acht Bände oder 10 € für neun Bände Akten oder mehr ergeben würden.

Dann müsse Zahlung erfolgen.

Dann werde die Akteneinsicht gewährt.

Vier bleischwere Schritte im Papierwald. Mit fantastischem Arbeits- und Zeitaufwand. Kommt irgendein Schreiben nicht an, geht’s noch mal von vorne los. Wenigstens wird man nicht vom Tempo überfordert.

Das ist unter dem Gesichtspunkt von Digitalisierung, Verwaltungsvereinfachung, Abbau von Verfahrenshindernissen und alten Zöpfen so jammervoll, daß man denken könnte, es handle sich um einen satirischen Beitrag. Aber nein. Es ist die Richtung, in die die Verwaltung fröhlich davonwandert, weg von allem, was modern gesinnten Spinner für Fortschritt halten. Wer so eine Verwaltung hat – und davon hat Deutschland noch lange nicht genug – braucht sich wegen Digitalisierungsfortschritten wirklich keine Sorgen machen. So schnell ändert sich hier nichts.

Ziehe 7000 Mark ein

Ich muß hier ein paar Bemerkungen über ein sehr instruktives Urteil des Landgerichts Stendal machen.

Denken Sie sich einen Anwalt, der in einer Familiensache außergerichtlich über Hunderte von Seiten völlig nutzloses Gewäsch absondert, das die Vermögenssituation der Eheleute am letzten Tag so unklar beläßt wie sie am ersten war und bei dem am Ende buchstäblich nichts herausgekommen ist, als daß die Ehe geschieden wurde. Dieser Anwalt läßt sich seine außergerichtliche Glanzleistung dadurch versilbern, daß er aus den fantastischen Vorstellungen der Eheleute über das Vermögen des jeweils anderen einen ebenso fantastischen Gegenstandswert konstruiert, der dann die Grundlage für seine fantastischen Gebühren bildet. Die Ehescheidung zahlte schon der Staat.

Dem Opfer – Mandant möchte man das fast nicht nennen – war nicht klar gewesen, daß der Gedanke, 10.000 oder 20.000 oder 50.000 oder 250.000 oder 300.000 von der Gegenseite fordern zu können, ein angenehmes Kribbeln auslösen mochte, am Ende aber nur eine entsprechende Gebührenrechnung ausgelöst hat, weil der Anwalt das Opfer nicht daraus hinwies, daß solche Forderungen völlig irreal waren, sondern diese aktiv unterstützte und am Ende seine Rechnung damit begründete.

Soweit die Vorstellung. Nur das Urteil des Landgerichts ist real, weil da genau solche ausgedachten Gegenstandswerte zur Grundlage der Gebührenrechtsprechung gemacht werden. Wenn der ahnungslose Mandant „eine Million“ ruft, weil´s gut klingt und der Anwalt daraufhin „Ach was, zwei Millionen!“ ruft, weil es noch besser klingt, dann ist das nicht verantwortungslos, sondern löst nach der Rechtsprechung des Landgerichts entsprechende Gebührenansprüche des Anwalts aus. Sonst kann da nicht viel passieren, weil der Anwalt schlau genug ist, die Forderung nur außergerichtlich geltend zu machen – einen Rechtsstreit würde man verlieren.

Und selbst dem allervernagelsten Anwalt wird noch auf die Sprünge geholfen. Wenn der tatsächlich über zwei Instanzen behauptet, allein das Entgegennehmen der Post löse schon Gebühren aus, wird ihm geduldig erklärt, das allein reiche nicht, sondern es sei schon eine Prüfung, ob etwas veranlaßt sei, erforderlich, worauf endlich der Groschen fällt, und der Anwalt erklärt, jetzt falle ihm ein, daß er natürlich auch die Notwendigkeit geprüft habe, ob auf den Posteingang etwas veranlaßt sei, und zu dem Ergebnis gekommen sei, daß nichts veranlaßt sei, was dem Landgericht dann auch ein weiteres Honorar von 57,12 € wert war.

Welches Bild einer Anwalt-Mandanten-Beziehung steckt hinter einer solchen Rechtsprechung?
Jedenfalls ein von der Wirklichkeit weitgehend entkoppeltes. Denn eine Vielzahl von Rechtsuchenden können nicht einschätzen, ob ihre Vorstellungen realistisch sind. Sie sind darauf angewiesen, daß der Anwalt ihre teils schon märchenhaften Vorstellungen nicht im eigenen Gebühreninteresse befeuert. Dagegen hilft auch maximales Mißtrauen gegenüber dem eigenen Anwalt nicht.

Was könnte helfen? Eine Ende dieser Rechtsprechung. Denn ein Gegenstandswert bildet sich nicht, indem man eine Zahl würfelt und ein paar Nullen dranhängt, sondern er gehört zu einem bestimmten Lebenssachverhalt und soll dessen Wert repräsentieren. Völlig fiktive Vorstellungen des Mandanten von tatsächlich nicht vorhandenen Werten, die vom Anwalt gern geteilt werden, können nicht maßgeblich sein.

Bis sich das auch Landrichtern erschließt, bleibt dem Ausnehmen des Opfers durch den eigenen Anwalt Tor und Tür geöffnet.

Ich kenne da übrigens einen Anwalt, dessen Geschäftsmodell ist es, sich als Spezialisten für Arzthaftungssachen zu bezeichnen, mit fabulösen Schadenersatzbeträgen zu jonglieren und dann nach längerer Prüfung zu dem Ergebnis zu kommen, daß keine Erfolgsaussichten bestehen, worauf er seine Tätigkeit beendet und seine Rechnung schreibt – aber das ist eine andere Geschichte.

Bauamt Genthin

Anruf beim Bauamt Genthin, um den/die Sachbearbeiter/in eines Genehmigungsverfahrens für ein Tiefbau-Vorhaben und das Aktenzeichen zu erfragen

Am Telefon Frau Barschtipan, die jede Auskunft ohne die (schriftliche!) Darlegung eines berechtigten Interesses verweigert.

Am Telefon sodann Herr Dreßler, Leiter des Bauamtes und – wie er selbst sagt („höher kommen Sie hier nicht“) – der Vertreter des Landrats.

Er meint, die Frage nach dem/der Sachbearbeiter/in sei irrelevant.

Auf die Mitteilung, daß ich trotzdem mit dem/der Sachbearbeiter/in sprechen möchte, erklärt, er, er wisse nicht, wer der/die Sachbearbeiter/in ist und könne das auch nicht feststellen.

Ich möge einen Antrag stellen. Auf den Hinweis, daß der Antrag, der nach dem Informationszugangsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt formlos möglich ist und eben gestellt worden ist, erklärt er, es sei alles gesagt.

Habe ich die gewünschte Information erhalten? Nein. Warum steht das hier?

Weil es meiner Meinung nach ein sehr instruktives Beispiel für die Inkompetenz ist, mit der die Vorgänge, die zum Kernbereich der Behörde gehören, verwaltet werden – der Behördenleiter kann und will einen bestimmten Vorgang nicht finden (womit zum Thema Behördeneffizienz – jedenfalls, was das Bauamt Genthin angeht – schon einmal ein klares statement abgegeben worden ist).
Weil es keinem der beteiligten Behördenmitarbeiter etwas auszumachen scheint, in ihren jeweiligen Antworten Arroganz und Dummheit zur Schau zu stellen (womit das Thema Transparenz und Bürgernähe – jedenfalls, was das Bauamt Genthin angeht – gründlich erledigt wird).
Weil der Umgang mit Behördendaten und insbesondere der Verweis auf ein „berechtigtes Interesse“, um auch nur ein Aktenzeichen und/oder einen Sachbearbeiter preiszugeben, oder auch der Verweis auf angebliche Irrelevanz einer bestimmten Frage ein willkürlicher und rechtswidriger Mißbrauch von Datenschutzregeln darstellt.

Weil diese – keineswegs originelle, Herr Dreßler! – Art, mit Anfragen umzugehen, die Aussagen der Behördenleiter, die sich zur Wahl stellen müssen, sie bemühten sich um eine moderne, bürgerfreundliche, effiziente Verwaltung, zu Lippenbekenntnissen degradiert.

Denn was versprach der Volkswirt Dr. Steffen Burchhardt allen, die ihn zum Landrat wählen sollten und das auch getan haben, als oberstes Ziel?
„Die Verwaltung modernisieren und digitalisieren – Bürgernähe und effiziente Strukturen sind der Schlüssel dazu. Ebenso zentral ist die Einführung eines Ideen- und Qualitätsmanagements.“

Naja.

Bei der Modernisierung der Verwaltung gäbe es einiges zu tun. Bei Bürgernähe und effizienten Strukturen zeigt sich ein nahezu unbegrenztes Verbesserungspotential. Dafür ist beim Ideen- und Qualitätsmanagement derart wenig an Ideen und Qualität zu managen – jedenfalls, was das Bauamt Genthin angeht -, daß man hier viel sparen kann.

Westernacher Solutions GmbH

Liebe Bundesrechtsanwaltskammer,

wer ist nur auf den Gedanken gekommen, als neuen Betreiber des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs Westernacher Solutions GmbH auszusuchen?

Die Imkompentenz bleibt die gleiche wie beim Vorgänger, der Weltfirma ATOS. Nur die Frechheit, mit der das eigene Versagen geleugnet (und dem Vorgänger in die Schuhe geschoben wird) ist bedeutend weiterentwickelt worden.

Aktuelles Beispiel vom 22.04.2021: der Zugang zum beA mit der installierten Software wird einfach abgeschaltet. Es wird zum Herunterladen der neuen Software aufgefordert (bzw. gezwungen). Ist das erfolgt, wird mitgeteilt, nun müsse weitere Software (csUpdater_prod_3_6_0_1_windows-x32.exe) zwingend nachgeladen werden. Das funktioniert aber nicht. „Der Download wurde unterbrochen. Möchten Sie es nochmals versuchen?“ Ich möchte nicht, ich muß.

Ungezählte Male später (nach einer hohen zweistelligen Zahl von weiteren Abbrüchen) ein Anruf beim Servicedesk. Dort wird man mit der automatisierten Mitteilung begrüßt, seit 6 Uhr heute früh gebe es teilweise Schwierigkeiten beim download des updates wegen eingeschränkter Bandbreite des servers – auf deutsch: der server von Westernacher Solutions ist mit der Menge der – selbst erzwungenen – Anfragen nach download der software überlastet. Der smarte Abwimmler am Servicedesk erklärt fröhlich, bei ihm selbst habe der download beim zehnten Mal funktioniert. Es gebe auch viele Nutzer, bei denen der download einwandfrei funktioniert habe (woher weiß er das?), nur bei einigen Nutzern gebe es leider …

Ich gehe davon aus, daß es dem Betreiber völlig egal ist, wie lächerlich er sich damit macht. Und selbstverständlich gibt es keinen anderen Weg, die software herunterzuladen.

Jetzt ist es 14:00 Uhr. Seit heute morgen um 06:00 Uhr arbeitet der geballte Sachverstand von Westernacher Solutions GmbH sich an einem selbst geschaffenen Problem ab und findet die Lösung nicht.

Ach ja: als Störung des beA gilt das offenbar nicht, wenngleich es offenbar eine ganze Reihe von Nutzern gibt, die wie ich durch das Vorenthalten des Zugangs daran gehindert werden, das beA überhaupt zu erreichen. In der „Störungsdokumentation“ wird so getan, als habe es seit dem 17.03.2021 keine Störung mehr gegeben.

Stört es bei der Bundesrechtsanwaltskammer niemand, daß durch die Auswahl eines solchen Betreibers und das Gewährenlassen der Nachweis der eigenen digitalen Inkompetenz so gut wie erbracht ist?

Deshalb wenigstens hier die Empfehlung, eiligst die Flucht zu ergreifen, wenn irgendwo Westernacher Solutions draufsteht oder drin ist.