Obrigkeitsstaat war gestern

Und das ist – bei Licht betrachtet – wirklich noch nicht sehr lange her. Nicht umsonst sagt man, wenn man meint, es wäre noch ganz gegenwärtig „Kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen“.

Und tatsächlich: gar nicht so selten erscheint unter der Oberfläche des demokratischen Rechtsstaats der dem Deutschen so vertraute – man möchte beinahe sagen: liebe – Obrigkeitsstaat.

Was zeichnet den aus? Zunächst einmal die Sicht von ganz weit oben auf den Untertan, den Wurm, den nicht zu zerquetschen eine selbstverständliche Rechtswohltat ist. Zivilisiert ist er schon, der Obrigkeitsstaat, die alte Uniform hat er abgeworfen. Aber es kann natürlich passieren, daß mangels Interesse der eine oder andere Winkel unausgeleuchtet bleibt und dann kann es passieren, daß der Wurm unter den Räder kommt. Und wie das bei der Bürokratie so ist (sieh an, da haben wir ihn wieder, den so harmonischen Dreiklang! Obrigkeitsstaat – Bürokratie – Untertan – wie klingt das bekannt, so wehmütig und heimatnah, es ist schon fast eine eigene Melodie), sind es immer mehrere, die sich die Zuständigkeiten teilen, so daß am Ende keiner schuld ist.

Absicht ist das nicht, aber schlecht für den Wurm.

Ein Beispiel. Der Wurm wird am 30.03.2020 in seiner räumlichen Bewegungsfreiheit auf den Landkreis Anhalt-Bitterfeld beschränkt. Dieses Gebiet von 59 X 48 km soll er fortan nicht mehr verlassen dürfen, weil er keinen Pass beibringt. Den Pass kann er nicht beibringen, weil die Botschaft in Berlin ihm keinen ausstellt. Die Logik ist klar: wenn man ihn jetzt in Anhalt-Bitterfeld einsperrt, dann löst sich das Paßproblem bestimmt viel schneller. Er legt aber Widerspruch ein. Der wird am 15.12.2020 zurückgewiesen. Auch Herr Heil vom Landesverwaltungsamt ist der festen Überzeugung, daß sich mit der räumlichen Beschränkung das Paßproblem sicher lösen lassen wird. Der Wurm klagt beim Verwaltungsgericht Halle. Am 18.01.2021 bestimmt das Verwaltungsgericht, daß das Verfahren das Aktenzeichen 1 A 15/21 tragen wird. Für das 15. Verfahren dieser Kammer im Jahr 2021 wird gleich am nächsten Tag der Gegenstandswert festgelegt. Aus dem ergibt sich, daß der Wurm Gerichtskosten von 483,00 € wird zahlen müssen. Am 04.05.2021 beantragt der Wurm Prozeßkostenhilfe. Er hat kein Geld.

Nun passiert erst einmal zwei Jahre lang nichts. Vor allem wird über seinen Prozeßkostenhilfeantrag nicht entschieden. In der Sache selbst passiert sowieso nichts. Aber am 27.01.2023 teilt das Gericht mit, die Stellung des Prozeßkostenhilfeantrags befreie nicht von der Zahlung der Gerichtskosten. Das ist feiner Humor. Und wird garniert mit dem Verweis auf einen Beschluß des Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2019. Hier beginnt sich bereits die Verantwortlichkeit auf mehrere Schultern zu verteilen. Das setzt sich fort, indem nun die Landeshauptkasse übernimmt und am 07.03.2023 – der Wurm konnte wohl nicht zahlen – eine Mahnung versendet und die Vollstreckung ankündigt. Als nächstes wird die Vollstreckungsstelle übernehmen.

Veranwortlich ist so richtig keiner. Das OVG mußte sich 2019 nicht dafür interessieren, daß späterhin über einen Prozeßkostenhilfeantrag zwei Jahre lang nicht entschieden werden würde. Das Verwaltungsgericht mußte sich 2021 nicht dafür interessieren, daß irgendwann mal die Gerichtskosten angemahnt werden würde. Und die Landeshauptkasse mußte sich 2023 nicht dafür interessieren, warum der Wurm ihr 483 € schuldet.

Schlecht für den Wurm.

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