Am 03.02.2017 hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem Therapeuten vom Maßregelvollzug in Bernburg.
Dort Untergebrachte müssen eine Reihe von Lockerungsstufen (etwa Einzelausführung, Gruppenausführung, Gruppenausgang, Einzelausgang) durchlaufen, die Voraussetzung für die Feststellung einer erfolgreichen Therapie und die Entlassung aus dem Maßregelvollzug und der Haft ist. Bei Verstößen wird ein Untergebrachter zurückgestuft und muß unter Umständen wieder von vorn anfangen (die Ähnlichkeit mit Mensch-Ärger-Dich-Nicht dürfte bei der zur Schau getragenen Humorlosigkeit der Ärzte und Therapeuten unbeabsichtigt sein).
Einem Mandanten war ganz kurz vor dem Erfolg die Lockerung gestrichen worden. Der Vorfall, der dazu geführt hatte, wurde nicht aufgeklärt, sondern „besprochen“. Wie es tatsächlich war, interessierte die Ärzte und Therapeuten nicht besonders. Sie wollten wissen, wie sich mein Mandant dazu – und zum Entzug seiner Lockerungen – verhielt.
Im Gespräch mit dem Therapeuten ergab sich folgendes. Und zwar ganz ernsthaft – ich glaube nicht, daß der Mann Schabernack trieb.
- Es war dem Therapeuten gedanklich völlig fremd, daß der Entzug der Lockerung auch eine Disziplinarmaßnahme darstellte. Er hielt das – ausschließlich – für Therapie. Daß er damit zugleich den Betroffenen dressierte, konnte er sich nicht vorstellen.
- Daß der Entzug der Lockerung eine freiheitsentziehende Maßnahme darstellte, war ihm ebenfalls vollkommen fremd.
- Daß der Betroffene das Bedürfnis haben könnte, zu erfahren, wann er wieder mit der Erteilung der Lockerungsstufe rechnen könne, die er schon mal hatte, die ihm aber wieder entzogen worden war, verstand sein Therapeut nicht.
Nun ist es aber so, daß nahezu alle Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, das System der Lockerungsstufen genau so verstanden: als Disziplinierungssystem, durch das sie zu einem bestimmten von der Anstalt vorgegebenen Verhalten gezwungen werden sollten, und dessen unangenehmste Seite die Ungewißheit war, wann ihnen wohl die nächste Stufe der Freiheit gewährt werden würde. In einzelnen Fällen haben die Betroffenen auch verstanden, daß die Therapie dazu dienen konnte, ihnen bei der Überwindung einer Krankheit – sei es einer Sucht oder einer psychischen Erkrankung – helfen konnte. Aber im Vordergrund steht für die Betroffenen stets die repressive Seite dieses Systems.
Um ein Bild zu gebrauchen: der Arzt, der die Schlüssel zu meiner Zellentür in der Tasche hat, mag ein Arzt sein, von dem ich Hilfe erwarten kann. Aber er ist auf jeden Fall immer Gefängniswärter, der zwischen mir und der Freiheit steht. Daran komme ich buchstäblich nicht vorbei.
Das verstand dieser Therapeut überhaupt nicht.
Damit endete denn auch unser Gespräch. Gewissermaßen: Vorhang zu und alle Fragen offen.
- Wie kann eine Therapie gelingen, bei der der Therapeut derart grundlegend darüber irrt, wie er auf seine Patienten wirkt?
- Bei der der Patient alsbald merkt, daß der Therapeut, der dem Patienten bei der Selbsterkenntnis helfen soll, zu eben dieser Selbsterkenntnis gar nicht in der Lage ist?
- Bei der die Nebenwirkung die erstrebten Ziele offenkundig dominieren?
Wer diese Therapie durchlaufen hat, der ist in einer Vielzahl von Fällen nicht therapiert, sondern dressiert. Der ist häufig nicht geheilt, sondern kann seine Probleme nur besser verbergen. Dies ist kein Plädoyer gegen die Freilassung von Maßregelpatienten. Es scheint aber so, daß über den Erfolg oder Mißerfolg einer Therapie Leute zu urteilen haben, die schon mal sich selbst bei dieser Therapie grundlegend falsch einschätzen. Und die sollen den Probanden richtig einschätzen können?