Juli 2024 in Pirna (in der Stadt, deren Bürger sich einen mit der Unterstützung der AfD angetretenen Oberbürgermeister gewählt haben).
Strafverhandlung der Einzelrichterin. Jemand hatte fünf Personen in einem Prager Hotel abgeholt und über die Grenze gebracht. Die Personen hatten kein Visum. Schleusung also.
Zwei Dinge muß man dazu bemerken. Erstens hatte die Staatsanwaltschaft – ziemlich ins Blaue hinein – eine Schleusung gegen Entgelt angeklagt, von der sich recht bald herausstellte, daß sie sich nicht würde beweisen lassen. Zweitens will der Gesetzgeber das Verbringen über die Grenze von mehr als einer Person genauso bestraft sehen, wie Schleusung gegen Entgelt. Wer also Verwandte (Mehrzahl) über die Grenze bringt, wird im Grundsatz genauso bestraft, wie der gewerbsmäßige Schleuser mit einer Lastwagenladung voll Flüchtlinge. Aber der Gesetzgeber kennt auch den minderschweren Fall.
Den kennt das Gericht in Pirna jedoch nicht. Und zwar mit der Begründung, wir befänden uns hier in einer Grenzregion und die Bevölkerung leide sehr unter dem Schleuserunwesen. Es habe sich das Empfinden verbreitet, man könne in Deutschland nach Belieben ein- und ausreisen. Das sei der Bevölkerung nicht zuzumuten. Eine strenge Bestrafung mit einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe sei grundsätzlich zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten. Staatsanwalt und Gericht im Wechselgesang.
Die Worte Grenzregion, Bevölkerung und Empfinden fielen so oft und so schnell hintereinander, daß sie sich in meinem Kopf – ich kann mir nicht helfen – zu dem Gefühl amalgamierten, es sei das gesunde Volksempfinden, das die exemplarisch strenge Bestrafung jedes Falles dieser Art verlange.
Merkwürdigerweise wurde auch das in diesem Fall bemühte Erfordernis der Verteidigung der Rechtsordnung gar nicht mit juristischen Argumenten begründet, sondern mit dem Empfinden der Grenzbevölkerung. Die Gegenvorstellung, daß die Verteidigung der Rechtsordnung vielleicht gerade nicht regional unterschiedlich gehandhabt werden sollte, wenn es denn dieselbe Rechtsordnung ist, die Pirna mit dem Rest der Bundesrepublik verbindet, stieß auf kein Verständnis.
Den Gedanken, daß bestimmt keiner, der dieser Grenzbevölkerung begegnet, sie länger als unbedingt nötig belästigen und schleunigst etwas grenzfernere Regionen aufsuchen wird, habe ich dann für mich behalten.
Auch in dieser Verhandlung hat das Gericht den minderschweren Fall nicht kennengelernt, aber die Strafe entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft dann doch zur Bewährung ausgesetzt. Aber die Staatsanwaltschaft kann ja ins Rechtsmittel gehen.
Fazit: sowohl die grenznahe Bevölkerung einschließlich des zugehörigen Justizpersonals als auch ich haben – wenn auch aus entgegengesetzter Perspektive – den Eindruck, daß Deutschland am Abgrund steht.