Nun ist der zweitgrößte anzunehmende Unfall eingetreten. Das beA ist eine Woche, bevor der Zwangsanschluß aller Anwälte wirksam werden sollte, komplett abgeschaltet worden.
Fünf Jahre nach Konzepterstellung und Planung, zwei Jahre nach der Installation, ein Jahr nach Aufnahme des Probebetriebs unter Realbedingungen.
Wegen ganz plötzlich (Bundesrechtsanwaltskammer: „… die Bundesrechtsanwaltskammer wurde gestern Abend darüber informiert…“) aufgetretener Sicherheitslücken. Die bis dahin niemand gesehen hatte.
Wer die arrogante Wir-haben-an-alles-gedacht Bräsigkeit der Protagonisten dieses Systems in den öffentlichen Darbietungen zur Vorstellung dieses Systems erlebt hat, wundert sich darüber nicht. Falls die Besteller, die ja vermutlich Sitz und Stimme in der Bundesrechsanwaltskammer haben, sich überhaupt in irgendeinem Aspekt haben beraten lassen – und damit meine ich nicht durch den Anbieter ATOS -, dann kann man ihnen jedenfalls die für Funktionäre vermutlich unabdingbare hinreichende Beratungsresistenz bescheinigen. Das konnte ja nicht funktionieren.
Darauf, daß das ganze System den Praxistest nicht bestehen würde, hätte ich ohnehin gewettet (bzw. habe ich). Daß das noch vor dem eigentlichen Start geschehen ist, hat mich allerdings überrascht. Der Abbruch ist von außen – quasi durch einen simulierten Einbruch – erzwungen worden. Auf die Einsicht der Beteiligten ist er nicht zurückzuführen. Deshalb darf man gespannt sein, worin nun die Lösung bestehen soll. Entweder es wird etwas angestrickt – ein erster Versuch dieser Art, mit einem Hauruck-Zusatz-Zertifikat eine Lücke zu schließen, dafür aber eine Bresche in die Mauer zu schlagen, durch die gleich Hundertschaften fahren könnten, ist schon innerhalb der ersten 24 Stunden gescheitert – oder das ganze System wird „überarbeitet“ – will sagen: mehr oder weniger komplett neu geschrieben. Das wird dauern.
Warum das alles?
Das beA ist ein möglicher Weg, Zustellungen an den Anwalt zu bewirken. Zustellungen lösen häufig Fristen aus, nach deren Verstreichen Prozeßhandlungen des Anwalts (Anträge, neuer Sachvortrag, Rechtsmittel) nicht mehr möglich sind. Dafür muß eine jede Zustellung nachweisbar sein. Die bisherige Methode – Zustellung gegen Empfangsbekenntnis – ist zuverlässig aber langsam und teuer. Das beA wäre als Zustellungsmethode schnell und billig. Aber ist es zuverlässig? Gelingt auch nur einmal der Einwand, jemand außerhalb der Anwaltskanzlei habe auf das beA zugegriffen und etwa die fristgebundene Zustellung gelöscht, bevor der Anwalt sie zur Kenntnis genommen haben konnte, dann ist das beA als Zustellungsweg vermutlich erledigt. Die Zustellung wäre dann nicht mehr nachweisbar, der Fristenlauf gehemmt, Rechtskraft stets eine Frage nachträglicher Überprüfung.
Gegenwärtig ist die Justiz zwar nur zu einem sehr geringen Teil überhaupt in der Lage, Zustellungen per beA zu bewirken. Das könnte sich aber bald ändern, wenn das beA erst einmal verpflichtend im Betrieb ist. Geht es in Betrieb und wird es für Zustellungen flächendeckend genutzt, hätte ein Versagen vermutlich dramatische Folgen.
Deshalb ist das, was sich jetzt zu Silvester bei BRAK und ATOS, den beiden braven Hütehunden der digitalen Herde unter den Anwälten abspielt, auch nur der zweitgrößte anzunehmende Unfall. Der größte wäre es, wenn die Zäune erst einmal aufgestellt sind, die Herde fröhlich auf der großen beA-Wiese weidet und dann der Wolf kommt, mit elegantem Sprung über den Zaun setzt und damit zeigt, daß Sicherheit immer – auch beim beA – nur relativ ist. Diese Erkenntnis steht den Betreibern offenbar noch bevor. Denn dieses Jahr kam der Wolf zu früh. Happy New Year!