Es hat in der jüngeren Vergangenheit Ansätze gegeben, die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, beantwortet zu bekommen, und zwar von der Partei der Linken. Dabei mag auch die Erwartung eine Rolle gespielt haben, daß sich gerade Mitglieder der Linke um diese Frage vieleicht ängstlicher herumdrücken würden, als ein Priester um die Frage, wie nah er sich seinen Ministranten fühlt.
Aber es liegt auf der Hand, diese Frage denjenigen zu stellen, die es vor allen anderen angeht, also den ehemaligen Funktionsträgern der DDR und denen, die sich in dem damaligen System wohlfühlen durften. Wie Bodo Ramelow diese Frage beantwortet, ist eigentlich egal. Aber was sagt mein Kollege Gregor Gysi fazu?
„Wir sind uns einig, diese Bezeichnung nicht zu verwenden“.
Und – wohl als Gegensatz zum Unrechtsstaat gemeint :
„Allerdings muss betont werden, dass es Unrecht, auch grobes Unrecht, in der DDR gab.“
Das ist nicht viel angesichts der mit den Stichworten Junkerland, Zwangskollektivierung, Kirchenkampf, staatsfeindlicher Hetze, Jugendwerkhöfen, antifaschistischem Schutzwall und Prager Botschaft verbundenen Einzelschicksalen, die auch dem Kollegen Gysi zeitweise anvertraut waren.
Vielleicht hilft es, den Begriff des Unrechtsstaates vom Begriff des Rechtsstaates her zu fassen. Ich würde meinen, daß ein Rechtsstaat dadurch gekennzeichnet ist, daß alle staatlichen Gewalten, also Legislative, Exekutive und Judikative dem Recht unterworfen sind, was u.a. dazu führt, daß die Legislative nicht beliebig Gesetze machen und ändern kann, sondern beispielsweise an die Verfassung und die darin enthaltenen Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist (was in der DDR nicht der Fall war). Was dazu führt, daß die Exekutive nicht machen kann, was ihr zweckmäßig und nützlich erscheint, sondern der Betroffene sich auch gegen jede staatliche Maßnahmen gerichtlich zur Wehr setzen kann (was in der DDR nicht der Fall war). Was dazu führt, daß gerichtliche Entscheidungen nicht hingenommen werden müssen, sondern mit Rechtsmitteln und notfalls mit der Berufung auf verfassungsmäßige Rechte angegriffen werden können. Was in der DDR auf eine sehr weitgehend exekutiv beeinflußte Rechtsprechung traf, so daß der Rechtsweg, wenn er denn eröffnet war, sich alsbald als Sackgasse erwies.
Ich würde meinem Kollegen daher widersprechen wollen. In einem Rechtsstaat gibt es Unrecht, auch grobes Unrecht, gegen das sich der Betroffene zur Wehr setzen kann – und das möglicherweise erfolgreich. In einem Unrechtsstaat macht das Reden von Unrecht keinen Sinn (und ist vielleicht sogar gefährlich), weil es dagegen nichts einzuwenden gibt. Und der Betroffene sich dagegen auch nicht zur Wehr setzen könnte.