Das Strafverfahren wird vom Betroffenen und von der Öffentlichkeit häufig ganz anders wahrgenommen als von den beteiligten Juristen. Das ist nicht ungefährlich. Denn auf die richtige Einschätzung des Verfahrens und seines Verlaufs kommt es an.Und zwar kam es zunächst im Ausgangsverfahren, das zu den Sieben Jahren Gustl Mollaths in der Psychiatrie geführt hat, auf eine richtige Einschätzung des Verfahrensverlaufs an. Ob die Anlaßtaten (Körperverletzungen an seiner Frau) damals mit der hinreichenden Sicherheit nachgewiesen worden sind, wissen wir nicht. Für das Gericht war spätestens mit dem Vorliegen des damaligen Gutachtens, das ihm den Ausschluß der Zurechnungsfähigkeit bescheinigte, klar, daß er wegen dieser Taten nicht verurteilt werden würde. Es kam also auf diese Taten letztlich nicht an.
Bedeutsamer war damals die Frage, ob Mollath geistig krank war und aus diesem Grund weitere erhebliche Straftaten von ihm zu erwarten waren. In dieser Frage hat Mollath damals durch seine umfangreichen Ausführungen zu kriminellen Verschwörungen aller möglicher Leute sein Bestes gegeben, um das Gericht vom Vorliegen einer Krankheit zu überzeugen. Seinem Verteidiger ist es damals offensichtlich nicht gelungen, ihm die darin liegende Gefahr – nämlich die drohende Unterbringung – zu verdeutlichen.
Im Rahmen seiner damals vom Gericht als Wahnvorstellungen gewerteten Erzählungen hat Mollath auch die Taten bestritten, wegen denen er eigentlich angeklagt war. Muß es verwundern, daß das Gericht sein Bestreiten unberücksichtigt gelassen hat, zumal es wegen dieser Taten ohnehin nicht verurteilen konnte?
Hätte Mollath damals – von seiner Verteidigung richtig instruiert – auf die Situation angemessen reagiert, hätte er vermutlich die Unterbringung vermeiden können.
Wiederaufnahmeverfahren finden letztlich ohne Mitwirkung des Betroffenen statt. Das war in diesem Fall vielleicht ein Segen.
Das zeigt sich daran, daß in dem durch das Wiederaufnahmeverfahren herbeigeführten zweiten Strafverfahren über die Vorwürfe aus dem Jahre 2006 Gustl Mollath durch überflüssige und irritierende Beweisanträge erneut einiges unternahm, das Gericht zumindest von seiner Verdrehtheit zu überzeugen. Dabei standen in diesem Verfahren zwei Dinge von vornherein eigentlich fest: Mollath würde auf jeden Fall freigesprochen werden, weil er im ersten Verfahren mangels Zurechnungsfähigkeit nicht verurteilt worden war. Und er würde nicht wieder in die Psychiatrie gesperrt werden, weil zumindest aktuell keine Geisteskrankheit feststellbar sein würde.
Mehr aber war praktisch nicht zu erreichen. Ob vor sieben Jahren die Unterbringung nicht hätte erfolgen dürfen, würde sich heute nicht sicher beantworten lassen. Und nur im Falle absolut sicherer Feststellung hätte das Gericht die damalige Diagnose verworfen. Wenn man die einschneidenden Folgen für den damaligen Gutachter und die Justiz bedenkt, ist das nicht schön, aber nachvollziehbar.
Was tat Mollath? Er versuchte, in einem Strafverfahren, dessen Ergebnis – zu seinen Gunsten – in allen wesentlichen Punkten bereits feststand, ganz eigene Ziele zu verfolgen, die diesem Strafverfahren letztlich fremd waren. Das Scheitern war vorprogrammiert. Seine Verteidiger versuchten – erkennbar mit allen Mitteln – ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Im konkreten Fall vergeblich. Das blieb zum Glück aus Gründen, für die der Beschuldigte nichts konnte, folgenlos.
Was bleibt, ist die Lehre, daß in allen Lagen des Verfahrens die Einschätzung des Betroffenen oder des Publikums von der der beteiligten Juristen erheblich abweichen kann und die zutreffende Einschätzung von ausschlaggebender Bedeutung für den Verfahrenserfolg sein kann.
Im Fall Mollath hat die Fehleinschätzung vor sieben Jahren dramatische Folgen gehabt. Aktuell ist sie folgenlos geblieben. Mollath selbst hat möglicherweise seinen eigenen Beitrag dazu gar nicht als so entscheidend wahrgenommen. Aber die Frage stellt sich doch: wenn man schon einen Verteidiger in Anspruch nimmt, warum nicht auf ihn hören?